Der Streuner - Variation oder Fortsetzung
Kapitel: 1,
2, 3,
4, 5,
6, 7,
8, 9,
10, 11,
12, 13,
14, 15,
16
Kapitel 1
Tramp lag dösend im hohen Gras des Gartens. Es war einer jener Sommertage,
an denen der Himmel in makellosem Blau erstrahlt und die Luft schwer und
süß vom Duft der Blumen ist. Die hellen Sonnenstrahlen schienen durch das
Geäst der kleinen Buche, in deren Halbschatten Tramp lag, und hinterließen
bizarre Muster auf seinem Fell. Eine Biene, noch trunken vom Nektarbad in
einem Blütenkelch, taumelte summend auf den Liegeplatz des Katers zu und
umschwirrte wagemutig seinen Kopf. Tramp zuckte mit den Ohren. Doch das
Summen wurde lauter. Er öffnete sein verbliebenes Auge einen Spalt breit
und blinzelte in die Sonne. Mit einem beiläufigen Pfotenschlag brachte er
das lästige Insekt zum Verstummen. Einmal wach, beschloß er, sich auf die
Pfoten zu machen. Seine innere Uhr sagte ihm, daß es sowieso Zeit sei, denn
Tina mußte bald von der Schule nach Hause kommen. Tramp gähnte herzhaft
und begann, sich ausgiebig zu dehnen und zu strecken, wobei er seine Krallen
genüßlich in den weichen Grasboden bohrte. Dann drehte er den Kopf und brachte
rasch mit seiner Zunge einige durch den Schlaf zerzauste Haare auf seinem
Rücken in Ordnung. Auf dem Weg durch den Garten genehmigte er sich noch
einen kleinen Schluck herrlich grün schmeckendes Wasser aus der Regentonne
und setzte sich dann an dem kleinen Gartentor nieder, um dort, wie jeden
Tag, auf Tina zu warten...
Kapitel 2
Tina saß im Bus und strahlte. Sie war schon immer ein fröhlicher und gutgelaunter
Mensch gewesen, aber heute hätte sie mit ihrem Lächeln ohne jede Mühe den
Preis für das glücklichste Gesicht des Tages gewonnen! Als sie aus dem Bus
stieg, schwebte sie mehr als sie ging den schmalen Weg zu ihrem Zuhause
entlang. Sie stieß das Gartentor auf und nahm Tramp, der ihr um die Beine
schnurrte, in ihre Arme."Tramp, ach Tramp, mein Liebster!" jauchzte
sie und schwenkte ihn in der Luft herum, während sie sich selbst um ihre
eigene Achse drehte. Gemeinsam tanzten sie über die Wiese. Nur Tina durfte
so etwas mit Tramp machen, jeder andere hätte seine scharfen Krallen zu
spüren bekommen! Aber bei Tina sah er darüber hinweg, daß ihm von der Dreherei
bereits schwindelig wurde. Ihr hätte er fast alles gestattet, weil er sie
liebte und ihr vertraute. Atemlos sank Tina mit Tramp in das Gras und setzte
ihn behutsam ab. Sie nahm seinen dicken Katerkopf in ihre schmalen Hände
und begann, seine Wangen zu kraulen. Tramps Schnurren wurde noch um einige
Grade intensiver und er gab sich ganz der Liebkosung hin. "Tramp, er
hat mich eingeladen! ER! Morgen abend haben wir ein Rendezvous! Oh, Tramp,
ich bin ja sooo glücklich!" Tina seufzte tief und innig, während sie
verträumt in den blauen Himmel schaute. Tramp war es egal, solange sie nur
nicht mit dem Kraulen aufhörte...
Kapitel 3
Etwas stimmte nicht! Etwas stimmte ganz und gar nicht! Tramp saß auf dem
Fensterbrett und schaute mißmutig aus dem Fenster. Sein Schwanz peitschte
nervös auf und ab. Er war verärgert und enttäuscht. Nun war es wieder passiert,
daß Tina nicht zur normalen Zeit aus der Schule gekommen war und er vergebens
auf sie am Gartentor gewartet hatte. Seit diesem einen Abend, als sie aufgeregt
durch die Wohnung gefetzt war und seinen Lieblingsplatz auf ihrem Bett durch
den vermutlich gesamten Inhalt ihres Kleiderschrankes belegt hatte (was
ihn allerdings nicht davon abgehalten hatte, sich trotzdem darauf zu legen),
war alles anders geworden. Ein fremder Besucher war mit einer lärmenden
Höllenmaschine gekommen. Der Bursche hatte lässig in der Haustür gestanden
und für Tramps Begriffe gräßlich nach Zigarettenrauch und Motorenöl gestunken,
während Tina, hochrot im Gesicht, irgend etwas stammelte, sich einen Helm
überstülpte und mit dem Typen verschwand. Und das Schlimmste war, sie hatte
vergessen, ihm zum Abschied über den Rücken zu streicheln, wie sie es sonst
immer tat! Dies hatte sich an den letzten Abenden mehrfach wiederholt. Auch
kam sie jetzt nicht mehr mit dem Bus von der Schule, sondern wurde von diesem
Etwas auf seinem brüllenden Ungetüm nach Hause kutschiert, meist erst Stunden
nach der üblichen Zeit. War Tina da, war sie trotzdem irgendwie abwesend.
Wenn sie Tramp streichelte, flüsterte sie dabei zärtlich einen Namen, der
nicht seiner war. Oder hatte sie ihn etwa auf "Oliver" umgetauft?
Anstatt mit ihm zu spielen oder durch den Garten zu jagen, lag sie nun meist
träumend auf ihrem Bett. Tramp war verzweifelt und wütend! Was sollte er
bloß tun? Er vermißte die Zuneigung seiner Tina, sie war ihm Lebensinhalt
und er mußte sie zurückerobern!
Kapitel 4
Tina war sich nicht bewußt, daß sie Tramp vernachlässigte. Sie war zum ersten
Mal in ihrem jungen Leben wirklich und wahrhaftig verliebt, in Oliver, den
smarten Jungen eine Klasse über ihr. Es wurde zwar erzählt, daß er die Mädchen
wechsle wie die Hemden, aber das wollte Tina nicht hören. Sie war einfach
nur glücklich und hielt jede Warnung ihrer Freundinnen für Neid! ER, der
coole und immer trendige Oliver, hatte sie auserwählt und nun waren sie
zusammen! Sie schwebte auf rosa Wolken und wollte sich durch nichts und
niemand ihr Glück zerstören lassen! Sie richtete ihr Leben ganz nach den
Wünschen von Oliver ein, hatte Zeit, wenn er Zeit hatte und fand Spaß an
Dingen, an denen er Spaß hatte. In ihrer Verliebtheit merkte Tina nicht,
daß Tramp immer trauriger wurde...
Kapitel 5
Tramp saß im Garten und starrte betrübt auf die Regentonne, in deren Wasser
einige unachtsame Insekten um ihr Überleben kämpften und sich an den toten
Körpern weniger glücklicher Artgenossen klammerten, um dem Naß zu entkommen.
Es war Sonntag und er war allein. Alle waren weggefahren. Gelangweilt beroch
Tramp eine kleine Spinne, die vor Schreck starr am Boden verharrte, als
ihn das Geräusch eines näherkommenden Motors aufmerksam werden ließ. In
der Auffahrt des Nachbargrundstückes hielt ein großer Möbeltransporter.
Tramp erinnerte sich sofort, es war das Grundstück des Katzenhassers, der
seinen Freund Flix auf dem Gewissen hatte. Der Katzenhasser war jedoch weggezogen
und seitdem hatte das Haus leergestanden. Nun schien sich dort drüben wieder
etwas zu tun. Tramp schlich auf leisen Sohlen zu der dunkelgrünen Ligusterhecke
und spähte aufmerksam durch eine Lücke im dichten Blattwerk. Nebenan waren
mehrere Menschen damit beschäftigt, Möbelstücke aus dem Transporter in das
Haus zu tragen. Plötzlich bekam Tramp große Augen und erstarrte zur Reglosigkeit.
Sein Schwanz zitterte und sträubte sich unwillkürlich, während er spürte,
wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Auf einem abgestellten Karton in
der Nähe der Terrasse lag einer seiner Art! Es war ein großer rotgestromter
Kater, der sich auf dem Karton faul in der Sonne räkelte und dem Treiben
um ihn herum gelassen zuschaute. Ein Junge beugte sich gerade über den Kater
und streichelte ihn liebevoll. "Ja, Mephisto, hier wird es uns gefallen,
nicht wahr?" redete er dem Kater zu, bevor er sich wieder umdrehte,
um seinen Eltern beim Auspacken der Sachen zu helfen. Tramp wußte, daß er
sich dem Neuen zeigen mußte. Nachdem drüben der größte Trubel vorbei war
und die Leute alle Möbelstücke aus dem Transporter in das Haus geladen hatten,
trat Tramp aus dem Gebüsch und schritt direkt auf den fremden Kater zu.
Schließlich war das hier sein Revier und der Neuankömmling hatte sich ihm
unterzuordnen! Als Mephisto ihn bemerkte, sprang er erschrocken auf und
blickte ihn unsicher an. Tramp musterte den Burschen mit einem abschätzenden
Blick von oben bis unten. Nun erkannte er ganz deutlich, was er aus der
Ferne nicht hatte wahrnehmen können. Mephisto war ein Kastrat! Also keine
Gefährdung für sein Revier. Eigentlich konnte der Ärmste ihm sogar leid
tun! Solchermaßen beruhigt, ging Tramp nun freundschaftlich auf Mephisto
zu und begrüßte ihn. Mephisto, froh darüber, keinen Streit mit dem Revierkater
bekommen zu haben, zeigte sich hocherfreut und schon bald saßen beide einträchtig
zusammen auf der Terrasse und tauschten Erfahrungen aus. "Ach, Mephisto,
hast Du schon einen Freund gefunden?" fragte plötzlich eine angenehm
weiche Stimme leise hinter ihnen. Im ersten Impuls erschrak Tramp bis ins
Innerste, er fuhr herum und wollte flüchten. Aber der Junge, denn um den
handelte es sich, hielt Abstand zu beiden und sah auch gar nicht bedrohlich
aus, wie er so dahockte und freundlich lächelte. "Du bist aber ein
Prachtexemplar!" lobte er Tramp und blickte ihn bewundernd an. Mephisto
erhob sich von seinem Platz und strich seinem Dosenöffner maunzend um die
Beine. "Ja ja, Mephi, nur kein Neid! Du bist und bleibst für mich der
Schönste!" beruhigte er seinen Kater lachend. "Und Du?" lockte
er Tramp wieder "Willst Du nicht auch ein paar Streicheleinheiten haben?"
Aber das ging Tramp nun doch zu weit. So sehr er sich auch nach Zärtlichkeiten
sehnte, aber sie sollten ja von seiner geliebten Tina kommen und nicht von
diesem Jungen, wenngleich er Tramp auch sehr sympathisch war. Dies erinnerte
ihn wieder an sein altes Problem, für das er immer noch keine Lösung hatte.
Traurig wandte er sich um und lief zur Hecke hinüber. "Komm uns doch
mal wieder besuchen, wir freuen uns!" rief ihm der neue Nachbar noch
hinterher und Mephisto bestätigte dies durch ein kurzes Mau.
Kapitel 6
Tina kam erst spät nach Hause. Sie war mit Oliver in der Disco gewesen und
es hatte Streit gegeben. Sie konnte nicht verstehen, wieso es normal sei,
daß Oliver mit anderen Mädchen tanzte und sie sogar küßte, während sie allein
am Tisch saß und darauf wartete, daß er für sie Zeit hatte. Sie hatte ihm
gezeigt, daß sie das nicht gut fand, aber er hatte ihr deutlich gemacht,
daß Flirten für ihn dazu gehöre, dies aber nix zu bedeuten hätte, da er
nur sie liebe. Sie müsse das tolerieren, so sei er nun mal! Er hatte ihr
vorgeworfen, spießig, überempfindlich und intolerant zu sein. Sie hatte
dazu geschwiegen, denn sie wollte ihn nicht verlieren. Sie liebte ihn eben
mit jeder Faser ihres Herzens! Aber gerade deshalb taten ihr seine Worte
und sein Verhalten so weh... Müde und traurig öffnete sie die Wohnungstür
und knipste das Licht an. Ihre Eltern waren schon längst im Bett und schliefen.
Sie wunderte sich ein bißchen, daß Tramp ihr nicht wie üblich entgegenkam,
aber vermutlich lag auch er schon auf ihrem Bett und träumte seine Katzenträume.
Sie zog sich aus und wusch sich. Vor dem Spiegel verharrte sie und sah sich
an. Plötzlich füllten sich die Augen ihres Spiegelbildes mit Tränen, liefen
über die Wangen und tropften geräuschlos auf den Boden. Sie brauchte jetzt
Trost! Sie brauchte jetzt Tramp! Tina lief ins Schlafzimmer. Dort blieb
sie erschrocken stehen, denn Tramp lag nicht wie sonst in ihrem Bett. Tramp
war nicht da! Sie lief zurück ins Wohnzimmer. Hier war Tramp auch nicht!
In die Küche. Kein Tramp! Tina durchsuchte alle Räume des Hauses und mit
jedem leeren Zimmer wuchs eine schreckliche Angst in ihrem Herzen. Wo war
Tramp? Schließlich öffnete sie leise die letzte Tür zum Schlafzimmer ihrer
Eltern und spähte hinein. Nein, auch hier war Tramp nicht zu finden! Tina
brach in Tränen aus. Ihre Eltern erwachten und sprangen besorgt aus den
Betten. "Tina, was ist passiert? Warum weinst Du denn?" fragten
sie wie aus einem Munde. "Tramp ist weg!" schluchzte Tina. Die
Eltern schauten sich erschrocken an. "Ist er denn nicht mit Dir hereingekommen?"
fragte die Mutter bestürzt. "Wir haben ihn heute morgen noch gesehen,
wie er hinausging, aber heute abend kam er nicht zurück. Wir dachten, er
wartet draußen auf Dich, wie er es sonst immer tut." Ein tiefes Schuldgefühl
ergriff Tina, als sie diese Worte hörte. ER WARTET DRAUßEN AUF DICH hallte
es in ihrem Kopf wieder und mit einem Schlag wurde ihr bewußt, wie sehr
sie ihren geliebten Kater vernachlässigt hatte, seit sie Oliver kannte.
Wann hatte sie sich das letzte Mal Zeit für eine ausgiebige Spielstunde
mit ihm genommen? Wann das letzte Mal mehr als nur flüchtig mit ihm geschmust?
Tina wurde das Herz schwer, wenn sie daran dachte, was sie Tramp angetan
hatte! Sie sprang auf und rannte in den Garten. Verzweifelt rief sie Tramps
Namen, immer und immer wieder. Aber Tramp kam nicht...
Kapitel 7
Tramp lief über das Getreidefeld. Die Ähren der Gerste waren noch nicht
vollständig reif, hatten aber schon einen goldenen Schimmer und bewegten
sich leicht hin und her schwingend im Wind wie anmutige Tänzerinnen. Es
war immer noch Sommer und Tramp fiel es nicht schwer, von dem reichen Nahrungsangebot
der Natur satt zu werden, zumal er ein hervorragender Mäusefänger war. Aber
Tramp war nicht glücklich. Er hatte Tina verlassen, weil er sich von ihr
verlassen gefühlt hatte. Trotzdem vermißte er sie schrecklich und er war
mehr als einmal beinahe wieder umgekehrt. Ein Geräusch riß ihn aus seinen
trüben Gedanken, das Geräusch, auf welches er die ganze Zeit schon gewartet
hatte. Sein Blut geriet in Wallung, er vergaß seine Sorgen und konzentrierte
sich ganz auf das kleine dunkle Loch vor ihm, aus dem ein verlockender Duft
strömte. Seine weit geöffneten Augen fixierten starr einen Punkt. Seine
Schnurrhaare zitterten. Er spürte, wie sich jeder Muskel spannte, als das
Adrenalin seinen Körper überflutete und sich seine Hinterbeine zum Sprung
sammelten. Dann sprang er! Bevor die Maus überhaupt begriff, was passierte,
hatte er sie bereits zwischen seinen rasiermesserscharfen Krallen gepackt
und tötete sie sofort mit einem einzigem Biß in den Nacken. Auf Spielereien
hatte er heute keine Lust! Nachdem er die Maus verputzt hatte, erhob er
sich, leckte sich noch ein paarmal links und rechts über die Schnauze und
lief los. Er war wieder unterwegs, wie früher. Er war wieder ein Streuner,
ein Tramp...
Kapitel 8
Seit einer Woche war Tramp nun verschwunden. Tina und ihre Eltern hatten
die ganze Umgebung abgesucht, alle Nachbarn befragt und Steckbriefe an den
Bäumen geklebt. Vergebens. Tramp war und blieb verschwunden, wie vom Erdboden
verschluckt! Als es klingelte, sauste Tina hoffnungsvoll zur Tür, um zu
öffnen. Vielleicht war es jemand, der etwas über den Verbleib von Tramp
wußte? Aber es war Oliver. Er begrüßte sie wie immer betont lässig mit einem
angedeuteten Kuß auf ihre Wange. "Bist Du fertig für die Fete bei Birgit?"
fragte er sie. "Nein, tut mir leid, Oliver, ich kann nicht" entschuldigte
sich Tina verlegen. "Du weißt doch, Tramp ...". Oliver schaute
genervt. "Tina! Seit Tagen hast Du nur noch ein Thema drauf, diese
blöde Katze! Sie ist weg. Na und? Vergiß sie einfach! So eine Katze findest
Du an jeder Straßenecke!" Tina blickte Oliver entsetzt an. "Aber,
Oliver..." begann sie. Oliver verzog gelangweilt das Gesicht. "Tina,
wozu habe ich denn eine Freundin, wenn sie nie Zeit für mich hat? Komm,
Mädel, mach keinen Streß und zieh dich um! Wir gehen zur Party!" "Du
könntest ja mit mir gemeinsam nach Tramp suchen" schlug Tina leise
und mit trauriger Stimme vor. Oliver schnaubte verächtlich. "Ich renne
doch nicht wegen diesem blöden Vieh durch die Gegend! Ne, nicht mit mir!"
Tina fühlte, wie Wut und Enttäuschung in ihr aufstieg. Nur um Oliver zu
gefallen, hatte sie ihre ganze Zeit mit ihm verbracht und dabei Tramp vernachlässigt.
Und nun sollte sie die Suche nach Tramp aufgeben, nur weil er zu einer Party
wollte? Nein! Das konnte sie nicht tun! Wenn er sie liebte, würde er das
verstehen! Sie hob den Kopf, sah Oliver fest in die Augen und sagte bestimmt
"ich gehe nicht zu dieser Party, ich suche Tramp!". Oliver verzog
das Gesicht, dann zuckte er kurz mit den Achseln. "Ist mir auch egal.
Dann gehe ich eben mit Melanie zur Fete. Die steht schon lange auf mich
und ist nicht so zickig wie Du!" Er grinste Tina an, die ihn fassungslos
anstarrte, dann drehte er sich um und ließ sie stehen. Tinas Herz pochte
ihr bis zum Halse und Tränen traten in ihre Augen. Aber es waren Tränen
der Wut und der Erleichterung. Wut über Olivers rücksichtsloses Verhalten.
Wie hatte sie nur diesen Typen lieben können, der sie so eiskalt abservierte,
wenn es nicht nach seinen Wünschen ging? Sie dachte an ihren geliebten Tramp
und plötzlich fühlte sie sich, als wäre ihr eine große Last von den Schultern
genommen worden. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie sich umdrehte
und die Tür schloß.
Kapitel 9
Tramp hatte sich wieder einige Futterstellen organisiert. Er fraß mal hier
und mal dort bei einigen Leuten, aber bei keinem blieb er länger. Von niemanden
ließ er sich berühren. Zu niemandem faßte er Vertrauen. Die Sehnsucht in
Tramps Herzen nach Tinas Nähe war stark. Aber war sie auch stärker als die
Angst vor einer neuen Enttäuschung?
Kapitel 10
Etwas berührte ihr Gesicht. Es war angenehm weich und kitzelig und irgendwie
vertraut. Tina wagte nicht, sich zu bewegen. Sie atmete vorsichtig durch
die Nase ein. Der Geruch war ebenfalls vertraut, warm und lebendig. Und
plötzlich wußte sie, was sie spürte und roch. Es war der Geruch und das
Fell einer Katze! War es... TRAMP??? Tina öffnete die Augen und schaute
auf. Sie sah in große grüne Augen, umrahmt von einem zotteligen rotgestromerten
Pelz und just in diesem Augenblick schnellte eine flinke rosa Katzenzunge
aus dem Maul und erwischte sie an der Nasenspitze. Lachend wehrte Tina Mephisto
ab und kraulte ihm das Fell. Der schmerzhafte Augenblick der Enttäuschung
blieb jedoch in ihrem Herzen. Es war nicht Tramp gewesen. Vor ihrem Liegestuhl,
den sie im Garten aufgestellt hatte, stand Marcel, zu dem Mephisto gehörte.
"Hey" rief Tina fröhlich "pfeif Deinen Löwen zurück!".
Marcel, dessen rotes Haar dem seines Katers glich, grinste sie freundschaftlich
an und nahm ihr Mephisto aus dem Arm. "Komm, Mephi, die Dame steht
nur auf Tiger!" Tina und Marcel hatten sich kennengelernt, als Tina
alle Nachbarn nach Tramp befragte. Marcel hatte ihr versprochen, bei der
Suche nach dem Kater zu helfen. Er steckte voller Ideen und Ratschläge und
war ihr in den letzten Tagen ein guter Freund geworden, der ihr Trost und
Mut spendete, nicht aufzugeben. Marcel setzte sich neben Tina ins Gras und
sah sie an. "Tina, ich habe da eine Idee!". Während Tina erwartungsvoll
zuhörte, begannen ihre Augen vor Freude zu strahlen...
Kapitel 11
Das Flugzeug kreiste in weitem Bogen über die Stadt. Es zog ein großes knallgelbes
Banner durch die Luft, auf dem eine schwarze Katze mit weißem Brustfleck
abgebildet war. Darunter stand in riesigen Lettern: Gesucht: TRAMP Auf der
Straße blieben die Leute stehen und schauten zu dem Flugzeug auf. Plötzlich
begann es zu regnen. Es regnete hunderte, nein, tausende von gelben Flugblättern
herab, ein jedes bedruckt mit Tramps Bild und Beschreibung und der Adresse
von Tina. Die Menschen bückten sich nach den gelben Zetteln und lasen sie.
Viele steckten sie ein, um Freunde und Bekannte nach der Katze zu fragen.
Das Flugzeug zog noch einen weiteren Kreis und verschwand im blauen Himmel,
auf dem Weg zum nächsten Ort ...
Kapitel 12
Diese Futterstelle war Tramp bereits zur Gewohnheit geworden. Hier bekam
er immer ausreichend Futter und es war stets ein Napf frisches Wasser vorhanden
(auch wenn er abgestandenes Wasser bevorzugte, konnte er in trockenen Zeiten
manchmal nicht wählerisch sein). Während er sich an dem Futter labte, sah
ihm die junge Frau am Fenster dabei zu. Das störte ihn nicht, denn das tat
sie immer. Er bemerkte nicht, daß die Frau etwas in ihren Händen hielt.
Immer wieder schaute sie auf das gelbe Blatt und verglich den Kater auf
dem Bild mit "Kolumbus", denn so hatte sie den Streuner heimlich
getauft. Ja, es gab keinen Zweifel, er war es! Seufzend trat sie vom Fenster
zurück und ging zum Telefon...
Kapitel 13
Nervös stand Tina am Fenster und starrte in die Dunkelheit des Gartens.
Der Abend war schnell hereingebrochen und hatte das Licht förmlich aufgesogen.
Zurück blieb ein undurchsichtiger Schleier miteinander verwobener Schatten,
der es schwer machte, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden.
Hatte sich da nicht eben etwas in den Büschen bewegt? Hatte sie nicht das
leise Tappen von herannahenden Pfoten gehört? Tina stand nun schon den dritten
Abend am Fenster der jungen Frau, die ihren Kater gesehen zu haben glaubte.
Die Aktion mit dem Flugzeug war ein voller Erfolg gewesen. Dabei spielten
die Beziehungen von Marcels Eltern eine wichtige Rolle und mit etwas Überredungskunst
hatten Tina und Marcel es geschafft, daß die Eltern diese Beziehungen auch
nutzten. So hatte die Suchaktion einen weit größeren Umkreis erfaßt, als
es mit Steckbriefen an Bäumen jemals möglich gewesen wäre. Und letztendlich
hatte dies Tina hierher geführt, an dieses Fenster. Da stand Tina nun und
wartete und hoffte, wartete und hoffte...
Kapitel 14
Tramp bewegte sich lautlos über den Rasen, der von dichtem Buschwerk umsäumt
war. Bereits hier konnte er den Duft des Futters im Napf riechen. Aber neben
diesem lag noch ein anderer Geruch in der Luft, schwach nur, in kleinen
Fetzen, fast unkenntlich, aber irgendwie vertraut! Eine seltsame Unruhe
erfaßte Tramp, sein Schwanz zuckte und seine Schnurrhaare bebten, während
er mit gespitzten Ohren die Umgebung sicherte. Aber es war nichts Ungewöhnliches
zu hören. Schließlich siegte seine Neugier und der Hunger und er trat aus
dem Schutz der Büsche heraus an den Futternapf.
Kapitel 15
Tina sah... TRAMP! Sie wollte rufen, locken, brachte aber keinen Ton über
die Lippen. Wie versteinert sah sie zu, wie Tramp sich über das Futter hermachte.
Endlich löste sich der Knoten in ihrem Hals und sie rief leise seinen Namen:
"Tramp". Tramp zuckte zusammen! Da war sie, die Stimme, die er
so sehr vermißt hatte! Seine Tina! Sie war da, war zu ihm gekommen! Sie
hatte ihn gesucht und gefunden! Die Freude überwältigte ihn und ließ ihn
alle Enttäuschung vergessen. Mit steil erhobenen Schwanz eilte er auf Tina
zu, die inzwischen auf die Terrasse getreten war. "Tramp, mein Tramp!"
schluchzte Tina, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Immer und
immer wieder fuhr sie ihm liebkosend durch das Fell, während Tramp ihr mit
kurzen und langen Miiiaus seine Erlebnisse, seine Sehnsüchte und seine Freude
mitteilte...
Kapitel 16
Tramp lag dösend im kurzen Gras des Gartens. Es war einer jener Herbsttage,
an denen der Himmel weit und klar und die Luft vom wirbelnden Tanz des buntgefärbten
Laubes erfüllt ist. Die Sonne wärmte ihm das Fell und er räkelte sich in
ihren goldenen Strahlen. Es war Zeit, sagte ihm seine innere Uhr. Er stand
auf, streckte seine Glieder und bohrte die Krallen dabei in den weichen
Grasboden. Mit seiner Zunge ordnete er schnell ein paar durch den Schlaf
zerzauste Haare an seiner linken Vorderpfote. Am Gartentor nahm er seinen
Platz ein und wartete ... Er brauchte nicht lange zu warten, bis Tina und
Marcel fröhlich lachend und sich gegenseitig neckend den kleinen Weg entlang
kamen. Erwartungsvoll maunzend stand er auf und wurde von beiden mit Streicheleinheiten
überschüttet. Gemeinsam rannten sie in den Garten, wo Marcel Tina in die
Arme nahm und durch die Luft schwenkte, während er sich um seine eigene
Achse drehte. Tramp setzte sich mit etwas Abstand daneben und sah dem Treiben
gutgelaunt zu. Atemlos sanken Tina und Marcel in das Gras. Tramp eilte herbei
und während Tina ihn am Kopf kraulte und Marcel ihm über den Rücken strich,
gaben sich die beiden einen Kuß. Tramp war es egal, solange sie nur nicht
mit dem Kraulen aufhörten...
Ende
Anja Tomczak, 22.02.2000